Wirtschaftsweise bescheinigt dem Norden große Chancen und wirbt für Pragmatismus

Eine Ansiedlung vom Kaliber Northvolt, Erneuerbaren Energien satt und obendrein eine große Weltoffenheit und Gelassenheit: Die aus Schleswig-Holstein stammende Wirtschaftsweise Veronika Grimm sieht in ihrer alten Heimat viele Standortvorteile. Heute besuchte sie in Neumünster eine Energiemesse und in Kiel Wirtschaftsminister Claus Ruhe Madsen.

Die Wirtschaftsweise Veronika Grimm von der Nürnberger Friedrich-Alexander-Universität schreibt Schleswig-Holstein im Zuge des industriellen Umbaus große Chancen zu. «Durch die Transformation zur Klimaneutralität ist es ja so, dass die Vorteile mit Blick auf die Energieerzeugung tatsächlich in den Norden gewandert sind», sagte sie heute nach einem Treffen mit Wirtschaftsminister Claus Ruhe Madsen und Teilen des Landeskabinetts. Der Überschuss an Ökostrom biete das Potenzial für Industrieansiedlungen und Wachstum.

Ein weiterer Standortvorteil sei die Gelassenheit und die positive Einstellung der Menschen. Es gebe wenig Akzeptanzprobleme, man rede relativ pragmatisch miteinander. In anderen Bundesländern sei die Diskussion deutlich polarisierter. «Es ist offensichtlich so, dass es gelingt, die Menschen zu integrieren und auch einen Pragmatismus von der Bevölkerung einzufordern. Es gibt weniger extremistische Tendenzen in der politischen Meinungsbildung.»

Das Land habe eine lange Geschichte der Weltoffenheit, weil die Region durch Seehandel immer offen gewesen sei und es Einflüsse von außen gegeben habe, sagte Grimm. «Das sind alles Standortbedingungen, die sich extrem positiv ausgehen können, wenn es um den wirtschaftlichen Wandel geht.» Das hänge aber auch davon ab, was die Menschen daraus machten.

Hier ein Mitschnitt des gesamten Pressegesprächs

Grimm, Madsen und auch Markus Biercher, der Chef der Regionaldirektion Nord der Bundesagentur für Arbeit, betonten bei einem Treffen im Gästehaus der Landesregierung die Rolle von Migranten und sprachen sich für pragmatische Ansätze bei der Integration Geflüchteter in den Arbeitsmarkt aus. Im vergangenen Jahr seien im Endeffekt 9.000 zusätzliche sozialversicherungspflichtige Jobs im Norden entstanden, sagte Biercher. «Dieses Plus ist ausschließlich durch zugewanderte Menschen entstanden.» Bis 2035 rechnen Experten in Schleswig-Holstein mit einem Bedarf an 180.000 zusätzlichen Fachkräften.

«Wenn wir unser Produktionspotenzial in Deutschland erhalten wollen, brauchen wir neben erhöhter Erwerbstätigkeit von Frauen und einer Koppelung des Renteneintrittsalters an die Lebenserwartung eine Zuwanderung von mindestens 1,5 Millionen Menschen pro Jah», sagte Grimm. Insbesondere die Einstellung von Geflüchteten scheitere oft daran, dass Arbeitgeber im Hinblick auf notwendige Sprachkenntnisse zu anspruchsvoll seien. Die jüngsten Bemühungen Schleswig-Holsteins, Geflüchteten auch mit geringen Sprachkenntnissen zügig den Weg in Beschäftigung zu bahnen, seien richtig. «Es muss Priorität haben, diese Menschen in Arbeit zu bringen, zugleich aber diejenigen abzusichern, die trotzdem nicht in Arbeit kommen.» Grimm ist Mitglied im Sachverständigenrat der Bundesregierung zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Lage – den so genannten „fünf Weisen“. In ihrem jüngsten Gutachten hatten die Wirtschaftsweisen – sofern die Politik nicht gegensteuere – ein Wachstum bis 2028 von nur 0,4 Prozent prognostiziert. Um das Erwerbspersonenpotenzial konstant zu halten, sei zudem eine Netto-Zuwanderung von 400.000 Menschen pro Jahr nötig, was einer Zuwanderung von 1,5 Millionen Menschen entspreche.

Madsen und Biercher kündigten unterdessen ein Pilot-Projekt im Rahmen des bundesweiten „Job-Turbo“ an. «Wir haben in den letzten Monaten unsere Kontakte in die Wirtschaft genutzt, um Unternehmerinnen und Unternehmer dafür zu gewinnen, Geflüchtete auch mit minimalen Sprachkenntnissen einzustellen», sagte Madsen. Rund ein Dutzend Betriebe – darunter auch große Unternehmen – hätten bereits Interesse signalisiert. «Es ist einen Versuch wert, denn die Wirtschaftsweisen schreiben uns ja nicht umsonst ins Stammbuch, dass wir diese Köpfe brauchen, wenn wir den Anschluss nicht verlieren wollen.» Er selbst habe als gebürtiger Däne ebenfalls die deutsche Sprache erst im Job richtig gelernt.

Biercher sagte dazu: «Ich kann dies nur bestätigen. In den vergangenen Wochen haben wir unsere Bemühungen zur schnelleren Arbeitsmarktintegration Geflüchteter in diversen Formaten wie Bewerbertage, Informationsveranstaltungen und Betriebsbesuche im Land intensiviert. Mit ersten Erfolgen: So ist die Zahl der Personen, die aus der Arbeitslosigkeit heraus eine Beschäftigung aufgenommen haben, in den letzten beiden Monaten im Vergleich zum Vorjahreszeitraum um ein Drittel angestiegen. Es geht also in die richtige Richtung. Wir werden unsere Anstrengungen weiter verstärken, um noch höhere Erfolge erzielen zu können.»

Madsen appellierte an alle Betriebe, Arbeitskräften aus dem Ausland auch schon mit geringeren Sprachkenntnissen eine Chance zu geben und die Möglichkeiten des berufsbegleitenden Sprachunterrichts, die jetzt nochmals praxisnäher ausgestaltet werden, zu nutzen. Er erinnerte auch an das im Dezember eröffnete „Welcome Center Schleswig-Holstein“. Das vom Land mit knapp 13 Millionen Euro geförderte Projekt ziele darauf ab, die Sichtbarkeit und Attraktivität Schleswig-Holsteins als Zuwanderungsland zu erhöhen und somit die Erwerbsmigration deutlich zu steigern. Zur Attraktivitätssteigerung gehöre auch, Schleswig-Holstein so zu positionieren, dass zugewanderte Arbeitskräfte und ihre Angehörigen gerne dauerhaft im echten Norden leben und arbeiten möchten, so Madsen.

Wirtschaftsweise Grimm mahnt unterdessen zur Eile: «Wir befinden uns in einem Wettlauf gegen die Zeit, weil das Wachstumspotenzial insbesondere durch den demografischen Wandel gedämpft wird.» In den kommenden Jahren werde die Generation der Babyboomer aus dem Erwerbsleben ausscheiden. Wenn aber die Zahl der geleisteten Arbeitsstunden schrumpfe, werde auch weniger produziert. Grimm: «Wir könnten also in eine Situation geraten, in der es Kindern nicht mehr besser, sondern schlechter geht als ihren Eltern. Für den sozialen Zusammenhalt in Deutschland könnte das Sprengstoff sein.»

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